Paartherapie - Identität als vernachlässigtes Thema
Paartherapie - Identität als vernachlässigtes Thema
Seltsame Verhaltensweisen in Partnerschaften lassen sich gewöhnlich nicht rechtfertigen, jedoch besser verstehen, kennen wir das Selbstbild des Anderen: Eine Erkenntnis, die auch in der systemischen Paartherapie erst Wurzeln schlagen muss.
Paartherapie - Identität als vernachlässigtes Thema
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In der systemischen Paartherapie, die immer beide Partner als Teil des vorgebrachten Beziehungsproblems und seiner Lösung begreift, ist der Aspekt der Identität bisher kaum präsent. Erfahrene Therapeuten wollen diese Lücke nun füllen und stellen unter dem Titel „Paartherapie und Identität“ Fachwissen und Beispiele aus ihrer eigenen Praxis vor, die die Bedeutung von Identitätsfragen für Paare aufzeigen. Nachgegangen wird zum Beispiel den Themen Identität und Anerkennung, Geschlechterstereotype, bikulturelle Beziehungskonflikte, Fremdgehen und Gewalt.


Identität: Das wandelbare Ich

Als Heranwachsende beschäftigen wir uns zum ersten Mal bewusst damit, woher wir kommen und wer wir sind, was unseren Charakter ausmacht und worin wir uns von anderen unterscheiden. Ein Gefühl für unsere eigene Identität bildet sich heraus und wir entwickeln ein bestimmtes Bild von uns selbst, das sich, so scheint es zunächst, nicht mehr verändern wird. Erst später machen wir die Erfahrung, dass sich dieses Selbstbild stetig wandelt, abhängig davon, in welcher Lebensphase wir uns befinden und was uns darin an Neuem widerfährt. Identitätsfindung ist sozusagen ein Projekt, das erst mit dem Tod endet.


„Sieh mich so, wie ich bin“

Es ergibt zweifelsfrei Sinn, Paarkonflikte vor dem Hintergrund dieser Identitätssuche oder dem Festhalten an einer erwünschten Identität zu betrachten. Die beiden Therapeutinnen, die das erste Kapitel des Buches bestreiten, zeigen diesbezüglich wichtige Aspekte auf, wie zum Beispiel die Anerkennung durch den Partner: Jeder möchte so vom anderen geliebt werden, wie er ist, ohne Wenn und Aber. Der Partner dient als Stütze für die eigene Identität. Ist der Wunsch nach Anerkennung besonders stark, ist der Partner damit aber oft überfordert. Starken Einfluss auf unsere Identität haben auch die Urteile unseres Partners, denn häufig orientieren wir uns an ihnen. Eines der Grundprobleme scheint aber vor allem zu sein: Wir erwarten vom Anderen, dass er uns so sieht, wie wir uns selbst sehen und erwarten damit etwas, das unmöglich ist.


Starke Frauen und echte Kerle

Starke Frauen geben den Ton in der Beziehung an, echte Kerle wiederum lassen sich nichts sagen. Wir alle tragen solche Bilder von männlicher und weiblicher Identität in unseren Köpfen, die uns zum Verhängnis werden, wollen wir etwas verkörpern, das nicht unserem Wesen entspricht. In Paartherapiegesprächen tauchen stereotype Männer- und Frauenbilder ausgesprochen häufig auf: Frauen verweisen gerne auf die Gefühllosigkeit ihrer Männer und sehen sich selbst als deren „Therapeutinnen“. Umgekehrt werfen die Männer ihnen oft kompliziertes, prinzessinnenhaftes Verhalten vor. Ferner hat auch das Geschlecht des Therapeuten wesentlichen Einfluss auf das Verhalten des Paares und darauf, wie er/sie das vom Paar Erzählte bewertet.


Bikulturelle Paare

Missverständnisse und Kommunikationsprobleme können natürlich nicht nur entstehen, wenn dem Partner bestimmte Rollenbilder aufgezwängt werden. Bei Partnern mit unterschiedlicher kultureller Herkunft lassen sich Verständnisprobleme oft nur schwer vermeiden. Unterschiedliche Werthaltungen können zu Konflikten innerhalb der Beziehung führen. Von Paartherapeuten ist deshalb auch interkulturelle Kompetenz gefordert.


Fremdgehen und Gewalt

Zwei weitere Kapitel des Buchs beschäftigen sich mit dem Fremdgehen als Form der Identitätssuche und dem Thema Gewalt. Fremdgehen wird hier als Versuch betrachtet, seiner Alltagsidentität zu entfliehen und sich selbst auf neue Weise zu erleben. Fremdgehen heißt aber auch, Fremdes in den Intimraum der Beziehung einzulassen und dadurch die Identität des Partners zu gefährden. Sind Therapeuten mit Paarbeziehungen konfrontiert, in denen es zu Gewalthandlungen kommt, gelten einige Besonderheiten, denn es entsteht Angst, und der Druck, das Problem des Paares so rasch wie möglich zu lösen. Dazu werden oft aber extreme Positionen eingenommen: Zum Beispiel wird für einen der Partner stark Partei ergriffen. Verhaltensweisen dieser Art zu vermeiden, gehört zu den Herausforderungen der Paartherapie. Weitere Herausforderungen für Therapeuten, wie etwa die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, werden im letzten Kapitel noch einmal gesondert reflektiert.


Fazit:
Ein interessantes und relativ gut verständliches Buch, für dessen Lektüre man sich allerdings Zeit nehmen muss. Es enthält eine Menge an fachlicher Information und Berichten aus der Praxis, die sich stellenweise in die Länge ziehen, kann man sich nicht zum Kreis der Paartherapeuten zählen, an die dieses Buch hauptsächlich gerichtet ist. Abschrecken lassen muss man sich aber nicht. Zwar hat man mit diesem Buch keinen beschwingten Ratgeber in punkto Paarbeziehung zur Hand, sicher wird man aber, indem man die Perspektive der Therapeuten einnimmt, etwaige eigene Beziehungs- und Identitätsprobleme mit mehr Distanz betrachten können.

  



Andrea Brandl-Nebehay und Joachim Hirsch (Hrsg.):
Paartherapie und Identität. Denkansätze für die Praxis
Carl-Auer Verlag 2010, 232 Seiten

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Autorin: Mag.a Angelika Stallhofer

 

 

 

 

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